Andrea Fischer
Andrea Fischer bei einer Begehung des Jamtalgletschers im Sommer 2023. In zehn Jahren wird dieser Gletscher größtenteils verschwunden sein.
APA/EXPA/JOHANN GRODER

In den letzten beiden Jahren war Andrea Fischer besonders oft in den Medien. Das lag nicht an irgendwelchen PR-Aktivitäten der Gletscherforscherin, sondern schlicht an ihren hauptsächlichen Untersuchungsobjekten: 2022 und 2023 waren für die österreichischen Gletscher besonders verheerend, die in diesen beiden Jahren Rekordverluste hinnehmen mussten. Dieses Abschmelzen genau zu dokumentieren ist eine der Hauptaufgaben der 50-jährigen Tirolerin, die als nüchterne Erforscherin des menschengemachten Klimawandels und seiner Folgen nicht nur in Fachkreisen geschätzt wird.

Am Montagvormittag wurde Fischer vom Klub der Bildungs- und Wissenschaftsjournalist:innen die Auszeichnung "Wissenschafterin des Jahres" verliehen – nicht nur für ihre exzellente Forschung, sondern auch für das Bemühen, ihre Arbeit einer großen Öffentlichkeit verständlich zu machen. Aktuell ist Fischer Vizedirektorin des Institut für Interdisziplinäre Gebirgsforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) in Innsbruck und seit 2022 ordentliches Mitglied der ÖAW. Zudem ist die erfolgreiche Wissenschafterin auch Bergsportlerin: 2002 war sie österreichische Staatsmeisterin im Eisklettern.

STANDARD: Sie haben einmal gesagt: "Kinder, die heute geboren werden, werden mit großer Wahrscheinlichkeit eisfreie Ostalpen erleben." Wie lange werden wir in Österreich noch Gletscher haben?

Fischer: Das lässt sich nicht so einfach sagen. Laut den wahrscheinlichsten Klimaszenarien gingen wir bis vor kurzem davon aus, dass wir Ende des 21. Jahrhunderts in den Ostalpen nur mehr etwa fünf Prozent des heute vorhandenen Eises haben werden, in den Westalpen noch ungefähr 15 Prozent. Diese Prognosen könnten aber deutlich zu korrigieren sein, weil wir in den letzten beiden Jahren Prozesse beobachtet haben, die in diesen Modellen nicht vorkamen.

STANDARD: Was war an 2022 und 2023 so anders?

Fischer: Wir hatten bis dahin Extremschmelzen von zwei Metern gehabt. Doch in den beiden letzten Jahren sind diese Eisverluste bei drei Metern gelegen. Dazu gab es im Winter sehr geringe Niederschläge. So etwas verkürzt die Lebenszeit der Ostalpengletscher deutlich. Dazu kam, dass wir zuletzt großflächige Höhlenbildungen unter den schwindenden Gletschern entdeckten, was in den Modellen noch nicht enthalten ist. Das deutet ebenfalls auf ein früheres Ende der Gletscher hin.

STANDARD: Wird sich Ihrer Meinung nach der Trend der letzten beiden Jahre fortsetzen?

Fischer: Das ist die Gretchenfrage, auf die niemand die Antwort kennt – auch weil wir von diesen beiden Jahren wirklich überrascht worden sind. Die Frage, ob es sich dabei um eine grundsätzliche lokale Anomalie des Klimawandels handelte oder ob es einfach statistische Ausreißer waren, werden wir erst in Jahren oder Jahrzehnten geklärt haben. Wir müssen dafür einfach noch sehr viel mehr über lokale Auswirkungen der globalen Zirkulationsmuster und deren Umstellungen lernen. Zu vermuten ist aber, dass wir langsam aus dem Temperaturregime der letzten 10.000 Jahre herauskommen und dann neue Verhältnisse haben werden.

STANDARD: Sie beschäftigen sich auch mit Fragen des Snowfarming, also des Lagerns von Schnee für die nächste Saison, und mit künstlicher Beschneiung. Könnte das die Lebenszeit der Gletscher verlängern?

Fischer: Nein, das wäre schon rein technisch viel zu aufwendig. Unsere Gletscher können weder mit technischen Maßnahmen noch durch Maßnahmen zur Eindämmung des Klimawandels gerettet werden, so ehrlich müssen wir sein. Unser globaler Entwicklungspfad beim Ausstoß von Treibhausgasen ist für die nächsten 30 Jahre festgelegt, und danach ist es für die Ostalpengletscher zu spät.

STANDARD: Warum beschäftigen Sie sich dann mit künstlicher Beschneiung?

Fischer: Die Alpentäler sind oft sehr strukturschwache Regionen, wo der Wintertourismus einen sehr wichtigen Teil des Einkommens darstellt. Die Beschneiung jetzt abzuschaffen, weil sie sich in 20, 30 Jahren nicht mehr rechnet, würde heißen, auf den Skitourismus zu verzichten. Das kann man natürlich machen. Aber dann hat man das Problem, dass es in den Tälern sehr wenige Arbeitsplätze gibt und die Menschen abwandern müssen. Und dann stellt sich die Frage, was man dann mit dieser zum Teil sehr alten Kulturlandschaft macht. All diese Dinge sollte man immer auch faktenbasiert diskutieren.

STANDARD: Kommen wir noch einmal zurück zu den Gletschern: Welche Folgen hat deren unwiderrufliches Abschmelzen regional?

Fischer: Lokal ist sicher zu erwarten, dass es zu einer gewissen Labilisierung des Geländes kommt. Zum einen dadurch, dass sehr viel loses Material durch das Wegschmelzen des Eises an der Oberfläche liegt. Zum anderen schmilzt durch die höheren Temperaturen auch der Permafrost auf, der das Gestein zusammenhält. Wir wissen aber noch sehr wenig über den Untergrund der Permafrostgebiete und über Eisreservoirs, die dort liegen. Das Gute ist, dass mögliche Bergstürze, die dadurch ausgelöst werden – so wie heuer am Fluchthorn in der Silvretta –, in den allermeisten Fällen im unbesiedelten Gebiet bleiben werden und dadurch Menschen und Verkehrswege kaum gefährdet sind.

STANDARD: Welche allgemeineren Auswirkungen sind durch die Gletscherschmelze für den Wasserhaushalt in Österreich zu erwarten?

Fischer: Wir haben das große Glück in Österreich, dass wir das meiste Wasser und auch das Trinkwasser aus den Niederschlägen erhalten. Und die derzeitigen Klimaszenarien sehen diesbezüglich noch relativ geringe Änderungen voraus. Momentan haben wir noch relativ viel Wasser, das von den Gletschern kommt. Aber das wird weniger werden und dann in wenigen Jahrzehnten ganz versiegen. Wasserausschüttung aus dem Permafrost sollte uns länger erhalten bleiben.

STANDARD: Neben Ihren Gletschervermessungen ziehen Sie mit Ihren Kolleginnen und Kollegen auch bis zu 6.000 Jahre alte Eisproben aus den noch vorhandenen Gletschern. Zuletzt erschienen einige Untersuchungen, die im abschmelzenden Gletschereis alte Viren und andere Mikroben entdeckten. Ist das für Sie ein Thema?

Fischer: Ja, noch dazu eines, das für die Gletscher der Ostalpen besonders relevant ist, weil sie besonders nahe an Gebieten liegen, die etwa für die Almwirtschaft oder für die Jagd genützt wurden und werden. Dazu waren viele Gletscher auch Übergänge über die Alpen. Die Umwelt-DNA-Untersuchungen, die das Mittel der Wahl wären, um das zu untersuchen, stehen allerdings gerade erst am Anfang. Ich erwarte mir aber für die nächsten Jahre, dass sich diesbezüglich viel Spannendes finden lassen wird.

STANDARD: Was lernen Sie jetzt schon aus den Eisbohrkernen?

Andrea Fischer
Andrea Fischer bei der Vermessung des abschmelzenden Jamtalgletschers: "Ich bin in den Äußerungen zum Klimawandel oft vorsichtiger als andere Kollegen – dafür sind das dann aber Aussagen, die auf tatsächlich gemessenen Daten beruhen und nicht auf Modellen."
APA/EXPA/JOHANN GRODER

Fischer: Wie wir aus diesen Paläodaten wissen, ist der anthropogene Klimawandel, den wir jetzt erleben, nicht die erste klimatische Herausforderung für die Bewohner der Alpen. Es gab immer wieder auch natürliche Schwankungen, die zum Teil sehr rasch gegangen sind und die von der damaligen Bevölkerung bewältigt werden mussten. Wir untersuchen anhand dieser Proben also auch das Zusammenspiel von Mensch und Umwelt und wie lange diese damaligen Umstellungen gedauert haben. Ich hoffe, dass wir daraus auch etwas für die Bewältigung der derzeitigen und künftigen Herausforderungen des Klimawandels lernen können.

STANDARD: Welche Rolle sehen Sie für sich als Wissenschafterin, einen Beitrag zur Begrenzung des Klimawandels zu leisten?

Fischer: Ich bin begeisterte Wissenschafterin, und das bedeutet für mich zum einen, sich ohne Emotionen Ursache und Wirkung anzusehen. Mir ist auch wichtig, so solide Daten wie möglich zu produzieren und diese mit allen Unsicherheiten zu kommunizieren. Deswegen bin ich in den Äußerungen zum Klimawandel oft vorsichtiger als andere Kollegen – dafür sind das dann aber Aussagen, die auf tatsächlich gemessenen Daten beruhen und nicht auf Modellen.

STANDARD: Der Diversitätsforscher Franz Essl, Ihr Vorgänger als Wissenschafter des Jahres, hat relativ bald nach Bekanntgabe der Wahl an einer Demo teilgenommen und sich mit Klimaaktivisten solidarisiert. Wie sehen Sie diesen Aktivismus?

Fischer: Ich verstehe die jungen Menschen, wenn sie ihre Zukunft davonschwimmen und keinen anderen Ausweg sehen, als sich auf die Straße zu kleben. In meiner derzeitigen Lebensperspektive sind Blockaden – auch als Sinnbild – nicht der richtige Weg. Wir müssen umgekehrt gemeinsam danach trachten, die Dinge in Bewegung zu bringen und aufeinander zuzugehen und uns nicht gegenseitig zu blockieren. Ich weiß, dass es sehr schwierig ist, weil man als junger Mensch oft nicht die Möglichkeit sieht, Dinge in Bewegung zu bekommen. Aber es gibt so viel Arbeit zu tun, damit die Transformation des Energiesystems auch wirklich gelingt. Dabei kann jeder konstruktive Beiträge leisten.

STANDARD: Welche Rolle hat dabei die Politik?

Fischer: Ich schätze das Handwerk der Politik sehr. Aber Politiker können nur Dinge in die Wege leiten, die in der Gesellschaft erwünscht sind. Von den fossilen Treibstoffen loszukommen kann also nur gelingen, wenn möglichst alle Bevölkerungsgruppen dabei mitgenommen werden. Sonst wird das nicht nachhaltig sein. Das ist ein langfristiger Prozess, der nicht von heute auf morgen gelingen kann, außer man setzt Zwangsmaßnahmen. Die aber werden dann spätestens nach fünf Jahren wieder ausgehebelt, weil es eine Revolution dagegen gibt. Dafür gibt es genügend Beispiele in der Geschichte.

STANDARD: Schon jetzt formiert sich nicht nur Widerstand gegen die Maßnahmen zur Eindämmung des Klimawandels – auch die Falschinformationen nehmen zu. Was lässt sich dagegen tun?

Fischer: Das Wichtigste in dieser Situation ist Bildung. Wir müssen den Kindern zeigen, wie man Fake von Fakt unterschneiden kann, wie sie sich Wissen erarbeiten und es überprüfen können. Diese Blasenbildung, die wir momentan durch die sozialen Medien erleben, die Auseinandersetzungen zwischen den Generationen und die Polarisierungen könnten uns wirklich zum Verhängnis werden. Denn nur auf die anderen einzuhauen, damit werden wir nichts erreichen. Das gelingt nur gemeinsam. (Klaus Taschwer, 8.12.2024)

Video: Glaziologin Andrea Fischer ist "Wissenschafterin des Jahres 2023."
APA